Lange habe ich mich nicht mehr gemeldet. Ich habe mir eine Auszeit genommen. Endlich habe ich, wenn auch nur für 12 Tage, Dresden den Rücken zugekehrt. Endlich konnte ich dem Alltag, der mehr zu Stress als zu Vergnügen geworden war, den Rücken kehren. Es war Zeit, mich in ein neues Abenteuer zu stürzen. Es galt, die Wildnis der polnischen Masuren zu entdecken und dabei neue Erfahrungen zu sammeln. Während meiner 12 Tage Outdoor-Urlaub, in denen ich mit drei guten Freunden die Masuren in einem Kajak durchquerte, sammelte ich viele neue Erfahrungen und lernte, was „back to the roots“ in der heutigen technischen Welt, die mich so beherrscht, bedeutet.

Am 14.8.2004 war es soweit. Mit meinem neuen, bei Ebay ersteigerten Zelt, meiner Isomatte und dem Schlafsack „bewaffnet“ trafen wir uns auf dem Bahnhof in Dresden. Wir waren bereit für zwanzig Stunden Zugfahrt an den östlichen Rand von Polen und damit 12 Tagen Abenteuer. „Wir“. Das sind Philipp, Thomas, Hagen und ich. Wir alle hatten die Prüfungszeit an der TU Dresden erfolgreich hinter uns gebracht. Entsprechend geschafft, aber voller Vorfreude auf die bevorstehenden Erlebnisse, setzten wir unsere Ferienhüte auf, die, wie wir später herausfinden sollten, das beste Mittel gegen die auf uns niederprasselnde Sonne sein sollte. Mitten in der Nacht, als wir die deutsch-polnische Grenze passierten, schauten uns die Zollbeamten uns eher skeptisch entgegen, als sie uns mit unseren Ferienhütchen kontrollierten.

Unser Startpunkt war Sorkwity, ein winziges polnisches Dorf, westlich der Masuren-Route, die wir „erpaddeln“ wollten, erreichten wir am 15.8.2004. Mit letzter Kraft und todmüde schleppten wir uns an den Bootshafen, wo bereits unsere Kajaks auf uns warteten. Wir entschlossen uns, unsere Sachen wasserdicht in Müllsäcken zu verpacken. Diese Methode war bereits bekannt, gut und billig. Am Ende unseres Urlaubes sollte jedoch jeder von uns froh sein, keine Sachen mehr in Müllsäcken verpacken zu müssen. Doch ich möchte nichts vorweg nehmen.

Ich stieg also zum ersten mal in meinem Leben in ein Kajak, das etwa so breit war wie meine Hüfte. Vor mir lag unser Gepäck, in Mülltüten verpackt, und wartete auf den ersten wilden Zeltplatz, irgendwo in den Wäldern der polnischen Masuren. Die Route des ersten Tages war vergleichsweise kurz. Dennoch war für mich jeder Paddelschlag eine neue Erfahrung, und mit jedem Meter, den wir vorwärts kamen, lernte ich dazu.

Wenn man kein elektrisches Licht hat, das einem die Nacht erhellt, lernt man sehr schnell, sich dem Rhythmus von Tag und Nacht unterzuordnen. Entsprechend zeitig suchten wir uns unseren ersten Zeltplatz. Das Ebay-Zelt war sehr schnell aufgestellt, die Gaskocher angworfen, und schnell machten wir uns unser Abendbrot: Nudeln aus der Dose. Wie am ersten Tag, gab es häufig Nudeln. Jeden Tag Nudeln. Nudeln mit Tomatensosse, Nudeln mit Kräutern, Nudeln mit … Ohje. Eigentlich haben wir viel zu oft Nudeln gegessen.

Die erste Nacht in den Wäldern habe ich mir viel aufregender vorgestellt, als sie tatsächlich war. Ich habe erwartet, das Eulen ihre „Schlachtrufe“ von sich geben und Wölfe um die Wette heulen. Doch nichts von dem geschah. Ganz im Gegenteil. Die erste Nacht war ruhig. Schon fast beängstigend ruhig.

Am Morgen kitzelte uns die Sonne aus unseren Zelten. Etwas verschlafen machten wir uns Kaffee und machten uns fertig für den bevorstehenden Tag. Wir hatten uns eine sehr anstrengende Route vorgenommen. Wo genau wir hinwollten war noch nicht klar. Jedoch wussten wir, dass wir so weit wie möglich kommen wollten. Wohin auch immer: Noch 130 km wollten gepaddelt werden.

Es mag sich nicht viel anhören, wenn ich schreibe, dass wir am ersten Tag ganze 20 km im Kajak hinter uns brachten. Für „Städter“, die normalerweise den ganzen Tag vor dem Computer oder in Hörsälen verbringen, ist diese Strecke jedoch schon recht lang. Noch dazu hatten unsere Kajaks keine Ruder. Jeder Paddelschlag konnte uns also ins Schilf oder auf harte Steine lenken. Jeder Paddelschlag war entscheidend und wurde umso schwerer, je länger der Tag wurde.

Irgendwann möchte man nur noch ans Ufer. Man möchte endlich wieder festen Boden unter den Füssen spüren. Da das Tagesziel jedoch noch nicht erreicht war, paddelten wir weiter was das Zeug hielt. Und je schwerer die Paddelschläge werden, desto mehr kommen Gedanken wie: „Was machst du hier eigentlich? Zum ersten Mal in der Wildnis, Du bist totmüde, aber mitten auf einem See.“ Oder „Das Paddeln ist ja so als ob ich in einem Rollstuhl sitzen würde und an einem Tag 20km durch die Gegend rollen würde.“ Und plötzlich kommen Vorstellungen und Vergleiche, wie viel 20km eigentlich sind.

Doch all die Anstrengung sollte nicht für umsonst sein. Nachdem wir endlich angekommen waren an einem der wenigen Zeltplätze an denen auch andere ihre Zelte aufschlugen, bewunderten wir die Landschaft. Wir setzten uns mitten in der Nacht an das Ufer und schauten in die Sterne, wie man sie sonst nirgendwo sieht. Es ist unglaublich, wie klar der Himmel ist. Da wir zu einer Zeit verreisten, zu der Neumond war, erhellten nur die Sterne die Umgebung. Es war stockfinster. Mitten im Wald unter den Bäumen erkannte man kaum noch die eigene Hand vor Augen. Nur am Ufer konnte man die Sterne bewundern, die sich in der spiegelglatten Oberfläche des Sees spiegelten. Ab und zu suchte sich eine Fledermaus den Weg durch die Nacht. Noch seltener hörte man einen Vogel. Ab und zu quakte ein Frosch in die Nacht. Nur das Summen der Mücken, die sich über uns hermachten, war klar zu hören.

Zum Glück hatte ich Autan, die chemische Keule gegen Mücken, mit dabei. Ohne dies wäre ich sicherlich gnadenlos von Mücken durchlöchert worden. Mitten in der Nacht fielen wir so am 2. Abend müde und erschöpft, aber auch fasziniert über die pure Natur, in der wir uns befanden, ins Bett.

Am 3. Tag sollte die zu paddelnde Strecke nicht allzu lang werden. Demnach verkürzten wir unsere Strecke, passierten einige Kanäle und Wehre, über die wir unsere Kajaks tragen mussten, und kamen am späten Nachmittag auf einer wunderschönen Halbinsel inmitten eines Sees, den die Polen Mokre nennen, an. Mit uns erreichte auch eine polnische Grossfamilie die Zeltstelle. Zunächst waren wir etwas enttäuscht darüber, dass wir Gäste hatten. Später jedoch, als die Grossfamilie ganze Bäume aus den umliegenden Wäldern antrug und sie zu Kleinholz machte, freuten wir uns über das bevorstehende Lagerfeuer. An einem solchen Lagerfeuer ist es für Mücken nämlich zu heiss. Uns stand also eine angenehme, diesmal mückenfreie, Nacht bevor.

Einer der polnischen Grossfamilie zückte noch eine Gitarre und ein altes polnisches Liederbuch mit Songs von verzweifelten Fischern auf hoher See und strapazierte seine Klampfe und unsere Ohren mit seinen musikalischen Einlagen. Als wir in den Tagen danach über ihn redeten, nannten wir ihn nur noch den Singe-Polen. In den folgenden neun Tagen sollte noch der Sauf-Pole und der Hack-Pole hinzukommen. Aber dazu später mehr.

In den folgenden Tagen paddelten wir über grosse Seen und kleine Kanäle. Wir trugen unsere Kajaks etliche Mal um und hätten bei so mancher Umtrage-Aktion die Kajaks am liebsten fallen gelassen oder uns eine vernünftige Schleuse gewünscht. Doch so anstrengend manche Aktionen auch waren, umso faszinierender waren die Eindrücke, die man von der Umgebung, dem Wasser und deren Pflanzen und Tieren bekommen hat. Die Sonne schien meistens auf uns, und ich glaube, es hat nie geregnet, wenn wir in unseren Kajaks sassen.

Zu einer Art Ritual wurden die Nutella-Scheiben, die wir jeden Morgen in uns hineinstopften. Anfangs hatten wir noch furchtbaren Appetit auf die morgendlichen Nutella-Einlagen. Am letzten Tag freuten wir uns jedoch enorm darüber, dass wir demnächst ganz sicher keine Nutella mehr zum Frühstück essen würden.

An einem einzigen Zeltplatz während unserer Paddeltour blieben wir zwei Tage. Die Zeltstelle war ziemlich schlecht, die hygienischen Bedingungen ebenso. Eigentlich bestand der Zeltplatz nur aus einer grünen Wiese auf einer Halbinsel, auf der zwei fürchterlich heruntergekommene rote Klohäuschen standen. Schon nachdem man die Tür vorsichtig öffnete, überlegte man, ob man nicht lieber – wie vor einigen Monaten die Promis im Fernsehen – in den Wald geht.

Lustigerweise gehörte zu dem Zeltplatz dennoch ein Betreuer. Es war ein ziemlich alter man, der allmorgendlich mit einem Feuerwehrschlauch die Klohäuschen ausspülte und gegen Abend ganze Bäume aus den umliegenden Wäldern zog, um daraus riesige Lagerfeuer mit meterhohen Flammen zu machen. Auch er bekam von uns einen Spitznamen. Mit seiner messerscharfen Axt durchtrennte er mit mehreren Schlägen selbst die dicksten Bäume und beinahe seine eigenen Beine. Manchmal schwang er die Axt so dicht an seinen Beinen vorbei, dass man Angst haben musste, er würde jeden Moment umfallen.

Doch er beherrschte sein Handwerk sehr gut und warf selbst die dicksten Stämme mit voller Wucht ins Feuer. Dabei schwitzte er natürlich fürchterlich und schleuderte eines abends sein Hemd ins Lagerfeuer, als wollte er eine Show inszenieren. Und weil uns dieser nette alte Herr so lange im Gedächtnis blieb, nannten wir ihn unter uns nur noch den „Hack-Polen“.

Fehlt also nur noch ein geselliger Typ, dem wir den Spitznamen „Sauf-Pole“ gaben. Doch dieser nette Trinkgesell hatte natürlich auch einen echten Namen. Er hiess Jarek, kam eigentlich aus Warschau, war aber mit seiner Freundin Monika und der Jacht seiner Eltern zum Segeln in den Masuren. Da diese beiden kein Deutsch sprachen, unterhielten wir uns auf Englisch mit ihnen. Jarek sprach ein fürchterliches Englisch, also forderte ihn „seine Monika“ auf, einen Kasten Bier zu kaufen und sich ausgiebig mit uns auf Englisch zu unterhalten. Das hatte nur den Sinn, sein Englisch zu verbessern. (Selbstverständlich erzählte er uns das erst später, als er schon selbst ordentlich „getankt“ hatte.)

Ich weiss nicht, ob es am polnischen Bier, das auch noch „Special“ hiess, gelegen hat, oder am „Bärenhonig“, der immerhin 35 Vol.% Alkohol hatte, doch je später der Abend wurde, desto gesprächiger wurde ich. Am Tag danach war ich recht froh, dass das Wetter relativ schlecht war, so dass wir uns entschlossen, einen Tag länger auf diesem Zeltplatz zu bleiben. Wir alle hatten einen ordentlichen Kopf auf den Schultern. Jarek, der Sauf-Pole, schien die etlichen Bier und kuriosen Mischungen ganz gut überstanden zu haben. Er kam mit einen neuen Kasten Bier an, früh um 10 Uhr. Wir schaufelten gerade unsere Nutella-Schnitten herein und kämpften sonst mit dem Kater, als Jarek uns auf eine Runde einlud. Mit vorsichtigem Kopfschütteln und einem halbherzigen Kopfschütteln lehnten wir sein Angebot aber dankend ab. Die vorherige Nacht war für uns dann doch etwas zu heftig. Nunja, das gehört wohl auch dazu.

Nachdem wir auch noch den zweiten Tag auf diesem Zeltplatz verbracht hatten, kehrten wir am dritten Tag Jarek und dem Hack-Polen den Rücken zu und paddelten ins nächste Abenteuer hinein. Wir waren sehr froh, endlich wieder in Gegenden zu kommen, in denen uns nicht allzu viele Menschen begegneten, schliesslich waren wir im Outdoor-Urlaub und mieden damit die Touristen-Hochburgen sehr stark.

Natur pur fanden wir in einem Naturreservat, durch das wir vollkommen allein paddelten. Reiher, Störche und jedemenge andere Vögel flogen über uns. Schilf begleitete uns rechts und links des Kajaks, während unter uns die Fische zappelten. Am Ende dieses Tages schlugen wir unsere Zelte auf einem Kuhacker. Uns stand die wohl kälteste Nacht bevor. Jedoch war dies auch die Nacht der Sternschnuppen und Sternengucker. Philipp und Thomas entschlossen sich, in ihren Schlafsäcken im Freien zu übernachten und mit einem fantastischen Blick auf den beeindruckend klaren Sternenhimmel einzuschlafen. Mein Schlafsack war jedoch nicht für Temperaturen um die 0° Grad ausgelegt. Deshalb verbrachte ich die Nacht in meinem Zelt. Dies sollte die letzte Nacht in der Abgeschiedenheit der polnischen Masuren sein. Wie jeder Urlaub ging auch dieser langsam aber sicher auf sein Ende zu.

Nikolaiki, Touristenhochburg Nr. 1 in den polnischen Masuren, war unser Endziel, in dem wir unsere Kajaks abgeben wollten. Auf einem Zeltplatz, der uns die lang ersehnte heisse Dusche und einigermassen saubere sanitäre Anlagen bescheren sollte, packten wir ein letztes Mal unsere Sachen aus den blauen Müllsäcken. Mittlerweile konnten wir die zwar zweckmässigen, aber dennoch nervenden blauen Säcke nicht mehr sehen. Umso mehr freuten wir uns auch, also wir diese mit voller Wucht und Erleichterung in die Mülltonnen drücken konnten.

Die Rückfahrt kam mir unendlich lang vor. Die Züge in Polen fahren weit langsamer als die deutschen Züge. Entsprechend langatmig kann eine solche Zugfahrt denn auch sein. Zum Glück verschlief ich den grössten Teil dieser Fahrt. In Dresden angekommen hatte Philipp oder Hagen die kuriose Idee, direkt vom Bahnhof in die Mensa zu fahren und zum ersten Mal seit 12 Tagen ein ordentliches Mittagessen auf den Tisch zu bekommen. Wir bekamen es und merkten, dass das Mensaessen durchaus richtig schmecken kann.

Abschliessend kann ich nur sagen, dass der Urlaub mit den 3 guten Freunden in den polnischen Masuren eine wunderbare Erfahrung für mich war. Ich habe Land und Leute auf die wahrscheinlich interessanteste Weise kennen gelernt und war seit langer Zeit weit Weg vom Alltag.