Zurzeit lese ich ein Buch. Es heißt: „Russlanddisko“ und ist von Wladimir Kaminer. Er lebte in derselben Straße, in der auch ich nun wohne. Vielleicht wohnten wir sogar im selben Haus. Denn auch vor dem Eingang meines Hauses ist ein Obsthändler. Glaubt man meinem Vermieter, ist der schon seit Jahren dort drin.

Unter der Überschrift: „Beziehungskiste Berlin“ kann man in Kaminers Buch folgendes lesen: „Es wird oft behauptet, Berlin sei die Stadt der Singles. Die Bewohner lachen darüber. Nur einem oberflächlichen Journalisten, der irgendwelchen Statistiken mehr vertraut als seinen eigenen Augen, kann so etwas einfallen. Die Statistik lügt, sie hat auch früher immer gelogen. Die hat sich daran gewöhnt zu lügen. Berlin ist nicht die Stadt der Singles, sondern eine Stadt der Beziehungen. Genau genommen ist die Stadt eine einzige Beziehungskiste, die jeden Neuankömmling sofort einbezieht.“

Im letzten halben Jahr, in dem ich in Berlin bin, habe ich beides erlebt. Wer mit wem, wann und wo Erlebnisse hatte, von denen ich hier lieber nichts schreibe. Warum der mit dem und nicht sie mit ihm sondern er mit ihr … Das sind Fragen, die so manchen in dieser Stadt beinahe tagtäglich beherrschen – rund um die Uhr.

Heute abend war ich mit einem Arbeitskollegen im Irish Pub im Europa-Center direkt neben der Gedächtniskirche auf dem Kuhdamm. Nachdem wir uns durch die Menschenmassen gewühlt haben, fanden wir einen Platz an einem Tisch, an dem bereits zwei Frauen saßen. Wir setzten uns und merkten recht schnell, dass die stammelnden Worte und das fette Grinsen auf den Gesichtern der Frauen nur eines sagen konnte: Wir haben schon sehr viel getrunken.

Beinahe entschuldigend klärten uns beide auf. Heute wäre St. Patrick’s Day, ein Nationalfeiertag in Irland, zu dem sich jeder hoffnungslos betrinkt. Beide Frauen rollten die Augen, während sie uns das erzählten. Wir wurden ertränkt im Redeschwall der beiden Frauen, die uns mit sinnlosen und eher langweiligen Details des St. Patrick’s Days überschütteten. Damit war leider nicht das Ende. Zusätzlich erfuhren wir, wer sie waren, wo sie arbeiteten, wie sie sich die Zukunft vorstellten und wie viel Bier sie trinken konnten, um gerade noch aufrecht auf die Toilette zu gehen.

Das alles kriegt man erzählt, von wildfremden Menschen, von denen man noch nicht einmal den Namen kannte. Über Männergeschichten wollten sie zunächst nichts erzählen. Doch wer mich kennt, weiß, dass auch irgendwann diese Geschichten folgten. Und genau an diesem Punkt merkte ich, wie die Fassade beider Frauen bröckelte.

Vor mir saßen unglaublich einsame verzweifelte Frauen, auf der Suche nach der großen Liebe. In den letzten Jahren haben sie ausschließlich OneNightStands gehabt. Der richtige war nicht dabei. Die Suche nach Mr. Right in Berlin haben sie schon aufgegeben. Eine der beiden Frauen wandert demnächst aus – nach Wien, die andere ertränkt ihre Sorgen in Ale, dem Irischen Nationalgetränk.

Je länger mir beide von sich erzählten, desto unsicherer wurden beide Frauen. Ihre junge sorglose Fassade war abgebröckelt, ihr kompliziertes Leben lag vor mir. Sie zeigten es mir, ohne dass ich danach gefragt hätte.

Seltsam.

Auf dem Heimweg schließlich stand ich gedankenverloren am Bahnsteig der U-Bahn. Sie sollte mich nachhause bringen. Während ich wartete, bemerkte ich, wie sich eine junge Dame um ihre beste Freundin kümmerte, die aussah wie der Tod auf zwei Beinen. Plötzlich rannte der Tod auf Zwei Beinen an den Bahnsteigrand, beugte sich über und kotzte sich Leib und Seele heraus. Ich hörte, wie sich die U-Bahn im Tunnel näherte, doch das Mädel wollte scheinbar noch die untersten Krümel aus sich herausholen und stand „vorn über“ und mit offenem Mund am Bahnsteigrand. Erst in letzter Minute zog ihre Freundin sie weg.

Das war knapp.

In der S-Bahn schließlich saß mir wieder eine junge Frau gegenüber. Sie sah aus wie das kleine Hässliche Entchen aus der neuen Erfolgsserie auf Sat1 „Verliebt in Berlin“. Spindeldürr, ein schmales Lächeln auf den Lippen, glasige Augen und eine dicke aber randlose Brille. Auf ihrer Tasche Stand: Emila Strange. War das ihr Name?

Wenn man in der U- oder S-Bahn sitzt, beginnt man immer wieder, Menschen in Schubladen zu stecken. Ich gebe das offen zu, weil ich mir sicher bin, dass andere dies auch machen. Und so begann auch ich, Emila Strange in eine Schublade zu stecken. Sicher war sie Single. Ihr Strick-Öko-Look verriet das, aber auch ihr einsamer suchender Blick und dieser kleine Funken Hoffnungslosigkeit, dass das Licht ausgeschaltet sein wird, wenn sie die Wohnungstür aufmacht, weil niemand auf sie wartet.

Berlin ist doch die Stadt der Singles. Sicher gibt es viele, die gerade in einer Beziehung stecken. Für die meisten ist Berlin jedoch eine Station in ihrem Leben, ein Umsteigebahnhof, auf dem jeder das Gleis sucht, auf dem der nächste Zug fährt.

So ist Berlin auch für mich eine Station im Leben. Alt werden möchte ich hier nicht. Dafür sind mir viele Dinge in dieser Stadt zu schnelllebig. Doch erst vor kurzem sagte mir ein Kollege, und waschechter Berliner, dass alle Fremden, die genau das sagen, auch in Jahren noch immer in Berlin sind.