Als ich vor einem Jahr anfing, dieses Tagebuch zu schreiben, habe ich mir vorgenommen, nie über „Szeneerfahrungen“ zu schreiben. Ich war immer der Meinung, dass solche Erlebnisse in kein Tagebuch, wie ich es schreibe, hineingehören. Doch nun hat sich im Laufe der letzten Monate so viel angestaut, dass ich anhand von vielen kleinen Eindrücken abrechnen will. Ich möchte abrechnen mit Oberflächlichkeit, skrupellosem Umgang mit Gefühlen und eiskalter Berechnung. Bevor jemand vermutet, ich würde in irgendeiner der Personen stecken, von denen ich nachfolgend schreibe, darf sich von mir mächtig auf die Füße getreten fühlen. Wenn ich etwas „am eigenen Leib“ erfahren habe, dann schreibe ich direkt darüber.

Mein Freund – ja, Du hast richtig gelesen – suchte vor etwa vier Jahren nach Freunden in dieser riesigen Stadt, in der auch ich nun lebe. Ähnlich wie ich seit neun Monaten hier in Berlin, wollte auch er anfangs nicht glauben, wie berechnend Menschen sein können. Wir beide wurden jedoch herb enttäuscht:

Herb enttäuscht von einem Menschen, der seit 15 Jahren mit einem Menschen zusammenlebt, den er seit 11 Jahren nach allen Regeln der Kunst betrügt. Dieser Mensch ist 38 Jahre alt, besitzt einen Freundeskreis aus überwiegend 20-25ig-jährigen, sucht regelmäßig Sexdates und ist stolz darauf. Was immer man an exotischen Szene-Erlebnissen haben kann, er hat sie alle hinter sich. Wenn man sich mit ihm darüber unterhält, könnte man meinen, er wäre glücklich. Schaut man hinter die Fassade entdeckt man einen neurotischen Menschen, der um Anerkennung ringt. Er ist hochsensibel und skrupellos-berechnend in selben Augenblick. Er machte uns vor, im Himmel sei Jahrmarkt. In Wirklichkeit war es ein Viehhandel, der jeden Tag aufs Neue im Internet stattfindet. Und genau dieser Mensch merkte, dass mein Freund und ich nicht zu den Menschen zählen, die sich mit Ganzkörperfotos und Detailaufnahmen in Internetprofilen vermarkten, wie Nutten in schmuddeligen Sexmagazinen. Genau in dem Moment, in dem er dies merkte, fühlte er sich derart einsam und verlassen, dass ihm selbst sein Freund, mit dem er sich seit Jahren eine Wohnung teilt, von dem er emotional so weit entfernt ist wie die Pinguine von der Sahara, keinen Schritt weiterhelfen konnte. So einsam und verlassen trank er sich mit einer Flasche Whiskey Mut an, jagte eine Spritze Auffüll-Tinte für die Druckerpatrone in seine Adern und hoffte, alles möge schnell vorbei sein. Dass Druckerfarbe nicht zum Tod führt, sondern nur weitere Grenzen aufzeigt, die man in der Berliner Schwulenwelt überschreiten kann, merkte er Stunden später im Krankenhaus. Trotzig wie ein Kind erpresste er meinen Freund und mich, indem er uns sagte, dass wir die einzigen Menschen auf der Welt wären, die sich noch für ihn interessieren würden. Indirekt gab er uns damit jedoch die Schuld an seinem Handeln. Man mag es kaum glauben, die Person, von der ich schreibe, studiert Psychologie. Gelernt hat er heute – gut vier Monate nach diesem Vorfall – nichts. Er macht sich weiter vor, er wäre bei allen beliebt und gefragt. Ich bin mir sicher, dass er nach wie vor Menschen emotional unter Druck setzt, um selbst nicht auf der Strecke zu bleiben. Das ist eine Rechnung, die er ohne den Wirt gemacht hat. Wo er heute ist, weiß ich nicht. Ich möchte es nicht wissen.

Ein anderer Mensch, der meinem Freund 18 Monate und mir 3 Wochen das Leben schwer machte, fickt sich auch heute noch durch Berlin. Beeindruckt von der Zahl der Menschen, die schon in seinem Bett landeten, sagte er im Spaß, er müsse bald umziehen. Bald gibt es niemanden in Berlin mehr, der noch nicht in seinem Bett gelandet ist. Prostitution gibt es in der schwulen Welt von heute nicht. Sexdates, die praktisch das selbe sind, kann man innerhalb von wenigen Minuten im Internet organisieren und Stunden später haben – zum Nulltarif. Leute wie er sind stolz darauf. Sie führen Strichlisten, weil sie irgendwann aufgehört haben, zu zählen oder nicht so weit zählen können. Über Gefahren und Risiken, die ein solcher Lebenswandel mit sich bringt, ist ihm fremd. Ich bin jedoch der Meinung, dass die Risiken in nur wenigen anderen Städten dieser Welt so hoch sind wie hier. Dieser Mensch, von dem ich schreibe, spielt mit seinem Leben und verschließt die Augen vor der Wirklichkeit. Doch ähnlich wie einer meiner besten Freunde, wird es ihn erwischen. Manche spielen Russisch-Roulett mit ihrem Leben, ohne jemals daran gedacht zu haben, dass man bei Glücksspielen nur verlieren kann.

Hier in Berlin findet man keine wirklichen Freunde, also halte ich meine Freundschaften aufrecht, die ich zu den Menschen in Dresden aufgebaut habe. Fest in dem Glauben, dass die Welt in Dresden wesentlich harmloser und behüteter sein würde als hier in Berlin, treffe ich mich – wenn auch nur in großen Abständen – mit einem guten Freund aus meiner alten Heimat. Er ist 21 Jahre alt, hat sein Leben praktisch noch vor sich, doch hat vor knapp zwei Wochen erfahren, dass es schon halb hinter ihm liegt. Er glaubte an die große Liebe, vertraute einem Menschen zu stark, der dieses Vertrauen ausnutzte. Die Quittung kam wie ein Hammer, der in Sekunden das Leben auf den Kopf stellte. Vor Jahren sagte er mir, dass er nicht sehr alt werden würde – er sollte Recht behalten. Die harte Realität hat ihn eingeholt.

Je länger ich mir diese Gedanken mache, und je länger ich in meinem Bett sitze und mit dem Laptop diese Zeilen schreibe, desto wütender machen mich diese Erlebnisse. Blicke ich auf die letzten neun Monate zurück, liegen etliche Berliner Freundschaften, von denen ich glaubte, sie würden halten, in Trümmern vor mir. Ich bin wütend auf die Menschen, die ihre eigenen Bedürfnisse befriedigen, ohne Rücksicht auf andere zu nehmen. Ich bin wütend auf Menschen, die mich mit Blicken mustern, weil sie mich flachlegen wollen, nicht weil sie ein wahres Interesse an mir haben. Ich hasse es, mir Gedanken darüber machen zu müssen, warum das alles so ist. Es kotzt mich an, dass man keine Freunde in Berlin finden kann, die an mir als Menschen interessiert sind. Ein Stück weit bin ich – zugegebener Maßen – auch selbst daran schuld: zu lange habe ich mich an die falschen Leute gewandt und dies zu spät erkannt.

Oft habe ich überlegt, ob es vielleicht an mir liegt, dass es in dieser Stadt so schwer ist, Freundschaften zu knüpfen. In Leipzig und Dresden hatte ich damit nie ein Problem. Hier in Berlin ist das anders.

Doch bei all diesen negativen Erfahrungen und Erkenntnissen bin ich froh, jemanden an meiner Seite zu haben, dem es genauso gegangen ist. Es ist ein wunderbares Gefühl, dass es jemanden gibt, der mich liebt, der nicht so ist, wie all die anderen Menschen, die ich hier in Berlin bisher kennen gelernt habe. An dieser Stelle möchte ich ganz einfach mal Danke sagen. Danke – ich weiß, ich habe Dir das schon oft gesagt, mehr möchte ich hier aber auch nicht schreiben. Du weißt, dass da unendlich viel mehr ist … (Mir fehlen die Worte. Ich sollte hier einfach Schluss machen.)