Mit leichtem Dröhnen beginnen sich die Turbinenschaufeln zu drehen. Vibrationen meines Sitzes bestätigen, dass der Flug in die USA unmittelbar bevorsteht. Der grau verhangene Himmel über Frankfurt macht mir den Abschied aus Deutschland etwas leichter. Ein paar Tage werde ich in den USA verbringen, ehe mich die grauen Wolken Deutschlands zurückgewinnen.

Der Mittelplatz neben mir ist zum Glück leer. Der Gangplatz ist belegt. Eine dünne Frau Mitte Fünfzig legt ihren iPod, ein Buch, ein Nackenhörnchen und Taschentücher zurecht. Die nächsten 10 Stunden werde wir in dieser Boeing 747-400 verbringen – an Schlaf, zumindest für mich, kaum zu denken. Mit Erschrecken stelle ich fest, dass dieses dreißig Jahre alte Langstreckenflugzeug keine Flachbildschirme für das Unterhaltungsprogramm in die Kopfstützen der Vordersitze hat. Leichtes Panikleuchten macht sich in meinen Augen breit. Ulla, die Mitte Fünfzigerin, sieht das und rät mir: „Lade Dir noch schnell die ‚United-App‘ herunter. Damit kannst Du Filme schauen.“ Während wir also von unserem Gate wegrollen und ich mit einem Auge die Flugbegleiter bei ihrer Choreographie der Sicherheit beobachte, lade ich mir noch schnell die App herunter. Glück gehabt.

„Vor 28 Jahren bin ich mit der Liebe meines Lebens in die USA ausgewandert. Wir lernten uns in Deutschland kennen. Geheiratet haben wir in den USA. Die Ehe hielt nicht lang. Nach sieben Jahren gingen wir getrennter Wege. Doch nachdem ich meine Zelte in Deutschland vollständig abgebrochen hatte, zog mich nichts zurück in die Heimat.“ Mit diesen Worten, die mir wie eine Offenbarung vorkamen, legte Ulla den Grundstein für eine interessante Unterhaltung darüber, wie eine Deutsche in Amerika Fuß fasste, sich zurechtfand und letztlich dort blieb, in diesem Land der unbegrenzten Möglichkeiten, die bei genauerer Betrachtung aber doch recht begrenzt sind.

„Ich begann in den USA als Krankenschwester zur arbeiten. Schnell jedoch merkte ich, dass Sprachkenntnisse in Amerika sehr geschätzt werden. Um mir ein zweites Standbein aufzubauen lernte ich Spanisch. Das fiel mir leicht, da mein Mann, den ich damals kennenlernte, Südamerikaner ist. Ich wurde Fremdsprachenkorrespondentin und arbeitete in Hilfsorganisationen, die der spanisch sprechenden Minderheit Zugang zu staatlichen Hilfseinrichtungen ermöglichten. Viel Geld konnte ich damit nicht verdienen, aber es machte mir Spaß. Diese Arbeit mache ich heute noch, denn der Anteil der spanisch sprechenden Einwanderer ist in Kalifornien sehr hoch.“ Ulla lebt in Santa Rosa, verheiratet mit einem argentinischen Professor, kinderlos. Zurück nach Deutschland möchte sie nicht.

„Wann immer ich in Deutschland bin ist mir kalt. An das Wetter im Sunshine State Kalifornien gewöhnt man sich schnell. Für die Weine, die im Napa Valley angebaut werden, profitieren von diesem Klima. Weltberühmt sind diese mittlerweile.“ Über Wein werden wir nicht mehr reden.

„Wie ist es, in Amerika zu arbeiten?“, frage ich Ulla.

„Ganz anders, als Du es von Deutschland kennst.“, ist ihre kurze Antwort.

„Warum? Was ist alles anders?“, bohre ich nach. „Es gibt so viele Aspekte, an die sich ein Deutscher nur schwer gewöhnen kann. Da wäre zum Beispiel der Urlaub. 10 Tage pro Jahr bekommt ein durchschnittlicher Arbeitnehmer. Großzügige Arbeitnehmer gewähren Dir ein paar weitere Tage unbezahlten Urlaub, sehen es aber nicht gern, wenn Du diese Option nutzt. Je länger Du für eine Firma arbeitest, desto mehr Urlaubstage bekommst Du. Nach fünf Jahren im selben Unternehmen kann man schon 15 Tage Urlaub pro Jahr erhalten. Aber das ist meist auch schon alles. Außerdem musst Du Dir selbst eine Krankenversicherung suchen. Ein erheblicher Teil Deines Einkommens wird hierfür verwendet. Niemand kümmert sich um Deine Rente, und einen Kündigungsschutz gibt es in den USA auch nicht.“ Ulla lächelt mich an uns sagt: „Ja, in Deutschland habt ihr es schon gut.“

Dennoch hat Ulla vor ein paar Jahren erst die doppelte Staatsbürgerschaft beantragt: „Diese zu bekommen war nicht leicht. Wenn Du sehr lange in den USA lebst, kannst Du einen Antrag auf die amerikanische Staatsbürgerschaft stellen. Mit Deinem Antrag musst Du eine Begründung einreichen, warum Du für das Land wichtig bist, und warum ein Antrag bewilligt werden sollte.“ Für Ulla war das sehr leicht. In einer halb staatlichen Einrichtung hilft sie Bedürftigen auf den richtigen Pfaden zu bleiben, berufstätig zu bleiben und das zu werden, was in Amerika ein ‚tüchtiger Bürger‘ genannt wird. „Sie sagten mir jedoch, dass ich meinen Deutschen Pass abgeben müsste. Das wollte ich natürlich nicht. Eine erneute Begründung musste her, weshalb ich meinen Deutschen Pass behalten wolle. Mit meiner Familie in Deutschland, meiner Mutter, um die wir Geschwister und gerade intensiv kümmern, hatte ich zum Glück ein paar gute Gründe in der Hand, um auch meinen Deutschen Pass zu behalten.“

Ulla ist hin und her gerissen zwischen den Welten. In großen Abständen kommt Besuch aus Deutschland. Meist muss Skype als Verbindung zur Mutter, die im Altersheim sitzt, herhalten. Ullas Schwester hilft dabei, die Technik für die Mutter aufzubauen. Die Altersdemenz nimmt der Mutter die Erinnerung an die Kinder. Während Sie mir dies erzählt, spielt sie verlegen an einem goldenen Medallion, das an einer Kette um ihren Hals hängt. Sie lächelt. Doch Wehmut liegt in ihrem Blick. Sie weiß, die Uhr tickt. Sie weiß, dass sie im schlimmsten Fall nicht schnell genug zurück in Deutschland sein kann.

„Ein Abschied fällt immer schwerer. Auf eine seltsame Art schweißt uns die Sorge um die Mutter zusammen.“, fügt Ulla hinzu. „Weißt Du, was das Schlimmste ist?“, fragt mich Ulla. Ohne eine Antwort abzuwarten, beantwortet sie selbst die Frage: „Wenn Du Deiner Mutter gegenüber sitzt, und sie Dich nicht erkennt. ‚Kennen wir uns?‘, fragt Sie mich dann, in ihrem Stuhl sitzend, und mich mit glasigen Augen betrachtend.“

In den wenigen Tagen, die Ulla in Deutschland war, um ihre Mutter zum vielleicht letzten Mal zu sehen, erlebte Sie jedoch auch einen schönen Augenblick: „Wenn Deine Mutter Dich plötzlich anlächelt, und Du erkennst, dass Sie Dich, ihre Tochter, erkannt hat, dann ist für einen kurzen Augenblick die Welt wieder in Ordnung.“