Ich habe keine Ahnung, warum mir in diesem Jahr absolut nicht weihnachtlich ist. Vielleicht ist es der Stress, den ich in den vergangenen Wochen hatte. Vielleicht ist es aber auch einfach nur zu warm für diese Jahreszeit. Es ist regnerisch, nass, kalt und grau. Keine Spur von glitzerndem Schnee, strahlender Sonne, glücklichen Familien, die durch die Gegend laufen. Hektisch und gestresst sind die Gesichter, in die ich derzeit schaue, wenn ich in der Innenstadt von Leipzig oder Berlin unterwegs bin. Aber wahrscheinlich sah mein Gesicht vor einer Woche noch ganz genauso aus. Denn damals hatte ich auch noch keine Weihnachtsgeschenke, klapperte emsig die Geschäfte ab und erfüllte allerlei Wünsche. Fragte mich jemand derjenigen, die ich beschenke, warum ich denn keine Zeit hätte, antwortete ich nur, ich hätte einen Termin mit dem Weihnachtsmann. Das verstanden alle und fragten auch nicht nach.

Nun kann ich mich entspannt zurücklegen und auf Heiligabend warten. Dieser wird nach genau dem selben Muster ablaufen, wie in all den anderen Jahren davor. Vormittags werde ich den künstlichen Weihnachtsbaum aus der Kammer holen. Schon vor Jahren haben wir uns dazu entschlossen, einen künstlichen Weihnachtsbaum aufzustellen. Wir fanden es schon immer seltsam, dass eine Tanne 5 Jahre wachsen soll, um uns 10 Tage glücklich zu machen. Für die Weihnachtsbaumbeleuchtung bin ich ebenfalls zuständig. Die Kugeln hängt meine Mutter an.

Es folgt am Nachmittag der alljährliche Gang in die Kirche. Dort holen wir uns die Portion „weihnachtliches Gefühl“. Doch obwohl meine Mutter und ich uns nur ein einziges Mal pro Jahr in einer Kirche blicken lassen und kaum länger bleiben als für ein paar Fotoaufnahmen und ein paar andächtigen Minuten notwendig, sind wir auch zu Heiligabend wählerisch.

Die Thomaskirche ist eine der bekanntesten Kirchen in Leipzig. Der Thomanerchor, der eine lange Tradition hat und alljährlich neue Stimmen aus Jugendlichen herauspresst, denen die Jugend genommen wird, tritt zu Heiligabend dort auf. Natürlich wissen das die Leipziger und strömen bereits knapp zwei Stunden vor Beginn der Messe in die Kirche hinein. Mit dabei: Meine Mutter und ich.

Langweilig ist es dann, auf den hölzernen Bänken zu sitzen und abzuwarten. Das haben wir schon vor einigen Jahren gemerkt und packen uns seitdem Bücher ein. Zeitungen wären zu auffällig. Bücher werden in einen „neutralen Umschlag“ verpackt, so dass man von außen nicht sieht, wie brutal, mörderisch und geheimnisvoll der Roman doch ist, mit dem man die Zeit überbrückt.

Über die weltfremde Rede, die der Pastor alljährlich hält, rege ich mich schon gar nicht mehr auf. Da ist es vollkommen egal, ob in New York Hochhäuser zusammenbrechen, Kriege im Iran oder Afghanistan geführt werden oder immer mehr Menschen in Deutschland unterhalb der Armutsgrenze leben (derzeit übrigens ca. 10%), der Pastor möchte Brot für die Welt spenden. In Kenia wird schließlich gehungert. Das mag zynisch klingen. Doch solange die Kirche Geld dafür hat, die Säulen und Gemälde mit Gold zu schmücken, fällt es mir schwer, das für ehrlich und wahrhaftig zu halten, was der Pastor von seiner Kanzel aus verkündet. Doch meiner Mutter gefallen die Lieder der Thomaner, und sie singt mit. Solange ich dabei nur meine Lippen bewegen muss, ist das okay.

Mit den Weihnachtsliedern im Kopf und dem muffigen Kirchengeruch in der Kleidung wandern wir zurück nachhause und gaukeln uns gegenseitig vor, dass der Weihnachtsmann gekommen sei. Es folgt die große Bescherung, ein gutes Essen, ein bisschen Unterhaltung und im Anschluss ein langweiliges Fernsehprogramm – natürlich unter dem hell erleuchteten Weihnachtsbaum.