Im letzten Jahr habe ich einen Beitrag unter dem Titel „Alle Jahre wieder“ geschrieben. Diesen Titel hatte ich rein zufällig wieder im Kopf, als ich zu Heilig Abend erneut in der Thomaskirche in Leipzig saß, um meiner Mutter einen Wunsch zu erfüllen, und um uns ein weihnachtliches Gefühl zu verschaffen.

Der Ablauf ist in jedem Jahr derselbe. Die Thomaner singen ein paar allseits bekannte weihnachtliche Lieder, der Pfarrer verkündet die Geburt Christi, findet allerlei mahnende Worte wenn es um unsere Gesellschaft geht, und am Ende laufen alle als etwas bessere Menschen aus der Kirche hinaus – spätestens wenn sie im Spendensack der Kirche ein paar Münzen oder sogar Geldscheine versenkt haben.

Dass ich von der Ansprache des Pfarrers nicht viel halte, mag man sich zusammenreimen können, kennt man mich. Der Pfarrer schafft es jedes Jahr auf’s neue, die wirklich kritischen Themen, die die Menschen bewegen, nicht anzusprechen. Meist gibt es ein paar hochtrabende ermahnende Worte des geistlichen Gelehrten, der über den Dingen schwebt. Ich bin mir sicher, dass die meisten der Zuhörer dem, was der Pfarrer von sich gibt, nicht folgen können. Aber ob sie dem nun folgen können oder nicht: Es gibt schon einen Grund, warum man in der Kirche keinen Beifall klatscht.

Allerdings tuen mir die Thomaner des Thomanerchors in jedem Jahr auf’s Neue ein kleinwenig mehr leid. Das sind Jungen im Alter zwischen 6 und 18 Jahren, die in einem Internat leben und praktisch den ganzen Tag Kirchenlieder singen. Jedes Mal denke ich, dass diese Jungen keinerlei Kindheit haben. Die Jungs singen auf Latein vom Tod und vom Leben Jesu und dem Wirken Gottes auf Erden. Eine beschwerte Kindheit jedoch sieht für mich anders aus.

[singlepic id=193 w=320 h=240 float=left]Das Leben der Kinder soll wohl sehr hart und „einfach“ sein. Die Lehrer in der Schule und die Betreuer im Internat achten wohl auf eine strenge christliche Erziehung. Scheinbar beiläufig bemerke ich dann – alljährlich zu Weihnachten – dass kein einziger der Kinder kurze Haare hat. Auch ausgefallene, witzige Haarfrisuren, die man nur mit Haargel oder -spray hinkriegt, sucht man unter den Goldkehlchen vergeblich.

Einerseits finde ich es bewundernswert, dass Menschen sich zu einem so frühen Zeitpunkt ihres Lebens für ein „Leben für Gott“ entscheiden. Doch auf der anderen Seite stelle ich mir immer die Frage: Können Jungs in einem solchen Alter (6-8 Jahre) so eine Entscheidung eigentlich in voller Tragweite fällen? Oder sind es nicht vielmehr die Eltern, die für ihre Kinder entscheiden, was Richtig und was Falsch ist?

Wie auch immer die Entscheidung der Goldkehlchen getroffen worden ist, und was immer auch der Pfarrer an Heilig Abend in der Kirche verkündet: Aus irgendeinem Grund kommen wir mit einem winzig kleinen Gefühl von Weihnachten zuhause an, nachdem wir die Thomaskirche in Leipzig verlassen haben – immerhin etwas.

Privacy Preference Center