Ich glaube, im tiefsten Inneren strebt jeder von uns nach Harmonie. Das ist sehr schön, wenn alles gut läuft. Möchte man aber Kritik äußern, weil es notwendig ist, spüre ich mich oft denken: „Wie sage ich es?“. Manchmal ist dann Diplomatie gefragt. Manchmal muss man für Probleme aber klare Worte finden, damit diese beim Gegenüber ankommen. Diese Gratwanderung zu gehen, ohne jemandem auf den Schlips zu treten, ist die große Herausforderung, die mich nicht nur im Privaten sondern auch im Berufsalltag immer wieder vor Herausforderungen stellt.
Meine Chefs meinen, ich hätte eine harmonische Art, auch in einem konfliktreichen Umfeld stets die richtigen Worte zu finden. Ich selbst bin mir nicht sicher, ob mir diese Gratwanderung immer gelingt. Wie auch immer ich argumentiere, Schlagfertigkeit ist ein Werkzeug, das ich mir im Laufe der Jahre antrainiert habe. Doch eigentlich mag ich dieses Wort nicht. Denn das Wort „Schlagfertigkeit“ hört sich an, als müsste ich auf ein Minenfeld gehen, und dort einen Sieg erringen. Schlagfertig zu sein, heißt, für etwas zu kämpfen, einen Standpunkt zu verteidigen und am Ende als Sieger vom Feld zu ziehen.
[singlepic id=857 w=320 h=240 float=left]Kein Mensch hört gern Kritik, doch manchmal ist es wichtig, klare unharmonische Worte zu finden, um voranzukommen. Mir ist es dabei immer wichtig, niemanden als „Verlierer“ vom Feld zu schicken, denn ein „Verlierer“ geht in inhaltlichen Diskussionen nur dann vom Feld, wenn etwas falsch gelaufen ist. Deshalb ist es mir immer wichtig, ein gemeinsames Bild zu entwickeln, um gemeinsam voranzukommen. Vielleicht ist diese Einstellung der „Grat der Harmonie“, den man gehen muss, um gemeinsam voranzukommen.
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Es gibt eine Zeitung, die ich schon seit knapp zwei Jahren lese. Sie heißt „NEON“, und ich kann sie jedem empfehlen, der gern gut geschriebene Berichte und Beiträge liest. In der September-Ausgabe wurde das Thema „Streiten“ von Marc Schürmann sehr schön beschrieben. Deshalb bin ich sehr froh, dass ich mit seiner Zustimmung seinen Beitrag hier posten darf. Es lohnt sich, ihn zu lesen!
Variante 1: Er: „Immer guckst du anderen Männern hinterher!“ – Sie: „Ach, das fällt dir auf? Das wundert mich, dumm, wie du bist.“ – Er: „Fängst dir gleich wieder eine.“ – Sie: „Arsch!“ – Er: „Schlampe!“
Variante 2: Er: „Liebling, ich fühle mich unattraktiv, weil ich das Gefühl habe, dass andere Männer anziehender auf dich wirken als ich.“ – Sie: „Tut mir leid, mein Schatz. Es ist für mich aber manchmal auch nicht leicht, seit deine Geliebte bei uns wohnt.“ – Er: „Das weiß ich doch.“ (Küsst sie auf die Wange.) „Lass uns diesen Streit vergessen und noch ein bisschen im Bett fernsehen, ja? Du weißt doch, ich liebe euch beide.“
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Ich verstehe mich nicht aufs Streiten. Deswegen tue ich es so selten. Es ist die Angst vor der Eskalation, die mich hemmt. Es könnte so ablaufen wie in Variante 1 (siehe oben), fürchte ich. Rote Gesichter, zugeschlagene Türen, Gebrüll und Gezeter. Um dem zu entgehen, streite ich mich nur innerlich, und das ist völlig unbefriedigend. überhaupt ist mir klar, dass meine Streitunlust nicht mehr haltbar ist. In Büchern steht, wie wichtig es ist zu streiten. Dass ein Streit die Beteiligten gar nicht auseinanderbringe, sondern zusammen. Wenn man es nur richtig macht. Ich will es lernen, denn wer streitet, gewinnt Herzen und Gehaltserhöhungen. Habe ich gehört.
Über das korrekte Streiten, scheint es, lässt sich wenig streiten. Die Lebenshilfeindustrie mit ihren Ratgeberbüchern verbreitet ausschließlich die Variante 2. Die wird in diesen Büchern natürlich ein bisschen realistischer dargestellt. Aber die Verhaltensregeln sind einfach: Vor allem muss man liebevoll streiten. Und persönlich, ohne persönlich zu werden. Am besten in sogenannten „Ich-Botschaften“ sprechen statt in „Du-Sätzen“, also: „Als ich gemerkt habe, dass du zu spät bist, war ich enttäuscht“ anstelle von „Du bist zu spät!“; oder „Es macht mich nervös, dass du so laut Musik hörst“ statt „Du nervst, mach leise“. Außerdem dürfe man nichts verallgemeinern („Du bist immer/nie … „). Und vor allem solle man sich in den Streitpartner hineinversetzen.
Ich habe es versucht. Im Büro, weil ich das für eine ungefährliche Teststrecke hielt. Ich sagte also zu meinem Kollegen: „Als ich vorhin gemerkt habe, dass meine Lexika nicht mehr auf meinem Schreibtisch stehen, war ich enttäuscht.“
Ich war unsicher, ob mein Kollege mich gehört hatte. Er sagte nichts.
„Meine Lexika … ?“, hakte ich nach. „Hm“, sagte mein Kollege und verließ das Büro.
Ich versetzte mich in ihn hinein und schämte mich. Bestimmt hatte er Wichtigeres zu tun, als meine Bücher zu verwalten. Ein „Duden – Die deutsche Rechtschreibung“ und ein „Duden Das Synonymwörterbuch“. Nach einer Stunde kam mein Kollege wieder, ohne Lexika und wohl ohne Erinnerung an meine Mahnung. Oder an mich. Er setzte sich, öffnete das Fenster und begann zu telefonieren. Ich fror.
Später am Tag fand ich die Bücher. Eins lag zuunterst in einem Stapel hinter dem Computer meines Kollegen, das andere zwei Büros weiter. „Nie kannst du dich durchsetzen“, sagte ich zu mir selbst und schämte mich wieder. Man darf nichts verallgemeinern, wenn man konstruktiv streitet. „Ich finde es schade, dass du dich nicht durchgesetzt hast … „, flüsterte ich mir vor. Trotzdem schwante mir, dass konstruktives Streiten am meisten für den konstruktiv ist, der etwas verbrochen hat. Oder für den, der Streiten grundsätzlich schlimm findet. Nur nicht für mich.
Am nächsten Tag fehlten meine Lexika wieder. Mein Kollege starrte auf seinen Bildschirm und kaute ein Wurstbrot.
„Seit ich gemerkt habe, dass meine Lexika nie auf meinem Schreibtisch stehen, bin ich wirklich enttäuscht“, erklärte ich, durch den Satz tapsend wie ein Gast, der nachts in einer fremden Wohnung das Klo sucht. Ich wollte nachdrücklich und nachsichtig zugleich klingen. „Nimm“, kaute mein Kollege.
„BÜCHER HER, MATSCHKOPF!“, schrie ich. In Gedanken. Heraus brachte ich: „Ich glaube, ich sehe sie. Kann es sein, dass sie neben deinem Papierkorb liegen?“
Er nickte. Dann öffnete er das Fenster und begann zu telefonieren. Das Nicken wertete ich als Erfolg, stellte mir aber vor, wie ich die Schnur seines Telefons langsam um den Hals meines Kollegen ziehen würde. Von solchen Tagträumen stand nichts in den Ratgeberbüchern. Um es klar zu sagen: Ein Streit ohne den Wolf, ohne Wut ist schön. Und Beleidigungen sind nie gesund. Ein „Arschloch“ ist eine scharfe Waffe, die am Ende den schlägt, der sie führt: Das Opfer kann nur noch den Angriff erkennen, nicht das Ziel dahinter, und dem Angreifer dessen Brutalität unmöglich verzeihen. Trotzdem: Ein Streit ohne Wut ist nicht immer richtig. Auf Dauer unterdrückt Diplomatie, was man eigentlich sagen will. Man benennt seinen Ärger, macht ihm aber keine Luft. Dieser Überdruck führt mit der Zeit zu einsamen Schmerzen oder zu einem heftigen und unvorhersehbaren Zornesknall. Psychologen gehen sogar davon aus, dass jeder zweite Streit aus unverarbeiteter Wut losbricht. So gesehen, führt Variante 2 (küsst sie auf die Wange) in manchen Fällen querfeldein zu Variante 1 („Arsch!“ – „Schlampe!“).
Sagt man alles in Ich-Botschaften, durch die Brille des anderen betrachtet, sachlich und gerecht, dann spricht man in immer der gleichen Tonlage. Das gemeinsame Büro sieht aus wie Sau, der Partner vögelt fremd oder kommt zehn Minuten zu spät zum Treffpunkt – jeder Streit ein wohliges Brummen. Wer ab und zu aus der Haut fährt, baut einen kostbaren Messpegel auf: Er zeigt an, wo die wunden Punkte liegen, wo die Grenzen, wo die Prioritäten. Um zu wissen, wo der andere empfindlich ist, muss man ihn dort erst verletzt haben. So gesehen, ist die Scheu vor einem Streit auch die Scheu vor einer Entblößung.
Die größte Schwäche der Variante 2, die aus Streitenden zahnlose Diplomaten macht, ist allerdings, dass sie so tut, als sei sie leicht zu lernen. Einen Streit entschieden im Willen, aber beherrscht im Ton zu führen, ist nicht nur manchmal schädlich, sondern auch psychologische Akrobatik. Und so wenden viele Leute die Variante 2 falsch an. Sie wollen sagen: „Dein Argument ist dumm“, dann fällt ihnen ein, was man ihnen über Ich-Botschaften eingetrichtert hat, und sie sagen: „Mir fehlt bei deinem Argument der Teil, der Sinn ergibt.“ Und dann wundern sie sich, dass der Rest nicht Lachen und Küssen ist.
[singlepic id=856 w=320 h=240 float=right]Die Variante 3 bedeutet, den Wolf dann herauszulassen, wenn man ihn nicht mehr halten will. Sie bedeutet, alle paar Wochen zu einem Menschen, den man wirklich mag, grobe und platte und einseitige und egoistische Dinge zu sagen. Sie bedeutet, erkennen zu geben, wann man so gekränkt ist, dass man gemein wird. Und sie bedeutet, in allen anderen Momenten den Wolf in der Sonne dösen zu lassen und gut aufzupassen, was man wie sagt.
Am dritten Tag fragte mich mein Kollege: „Wo ist mein Telefon?“
„Kriegst du, wenn ich meine Bücher wiederhabe“, sagte ich.
„Hier. Nervensäge.“-„Hier. Chaot.“- „Freunde?“ – „Freunde. Aber lass jetzt das Fenster zu, das zieht.“ – „Okay, okay.“
Echtes Streiten ist wie Regen. Es verdirbt einem den Moment, vielleicht auch den Tag, aber ohne wächst nichts. Der Nachteil: Es funktioniert nur in guten Freundschaften, Arbeitsverhältnissen und Beziehungen. In schlechten wütet man sowieso immer, weil einem der Zorn egal ist. Oder man wütet nie, weil man fürchtet, dass der Streit die Harmonie zerstören könnte. Aber Zorn ist Wahrheit, und Wahrheit kann nur zerstören, was schon kaputt ist.
Und jedem, der zum Thema Streiten immer noch anderer Meinung ist, sei gesagt: Das ist dein Problem, verdammt noch mal!
Vielen Dank an Marc Schürmann, dass ich Deinen Text hier posten durfte.