Manchmal passieren mir im Leben Dinge mit Menschen, die mich an meiner Menschenkenntnis zweifeln lassen. Genau so etwas ist heute passiert. Doch hier ist, wie alles begann:
Es war einer dieser nachweihnachtlichen Tage, wenn man als junger Mann aus seiner Heimatstadt kommt. Froh ist, seine Familie mal wiedergesehen zu haben. Aber genauso froh darüber ist, sein eigenes Leben in Berlin wiedergewonnen zu haben. An solch einem Abend verabredete ich mich mit einem Freund. Wir wollten die Nacht zum Tag machen. Das Leben in Berlin genießen, weit ab von Tannennadelgeruch und Glockgengeläut.
Wir gingen also in eine Bar, die eigentlich eine Diskothek ist. Mittlerweile: geschlossen. Mein Freund, mit dem ich an diesem Abend dort war, fragte mich, wie eigentlich „Offline-Communication“ funktioniert, wie man also als Mann andere Männer anspricht, ohne eine App auf seinem Handy zu öffnen und einen „Cool“-Tag hinterlässt oder ein nichtssagendes „Hi“ in ein Chatprogramm schreibt. Nun muss ich dazu sagen, dass er 25 und ich 36 Jahre alt bin. Das ist genau der Altersunterschied, den es braucht, um zwischen „Ich mache alles über’s Internet.“ und „Ich klingele mal an der Tür unseres Nachbarn“ zu unterscheiden.
Nach einigen Überlegungen und ersten „Ice-Barker“-Ideen in dieser Diskothek sah ich also diesen recht hübschen Typen auf der Tanzfläche tanzen. „Spitzenjunge“ stand auf seinem Tanktop. Ich wusste, dass dieses Label zu einer Unterwäsche-Firma gehörte, die Spitzenunterwäsche für Männer herstellte. Der hübsche Junge, etwas größer als ich, recht durchtrainiert, leuchtende Augen, dunkle Haare, wirkte aber nicht wie einer, der weiße gehäkelte Unterwäsche trug. Für meinen Freund, der ebenfalls einen Blick auf diesen Jungen geworfen hatte, war der „Ice-Barker“-Satz also recht schnell, recht klar: „Trägst Du denn die Unterwäsche von den Spitzenjungen?“
Ich glaube, ich muss dazusagen, dass es bei „Offline-Communication“ nicht darum geht, den möglichst besten Satz für den möglichst besten Menschen der Welt zu finden. Es geht tatsächlich nur darum, das Eis zu brechen. Es geht darum, einen Gesprächsfaden in den Händen zu halten, der unglaublich kurz ist, aber aufgrund der Antwort, die man bekommt, immer länger wird. Also gab ich meinem Freund ein paar Szenarien-Ratschläge an die Hand: „Wenn er die Unterwäsche von denen trägt, fragst Du, ob sie kratzt.“, „Wenn er die Unterwäsche von denen nicht trägt, fragst Du, warum Du er denn dann ein Tank-Top von denen trägt.“ … Das hört sich alles recht simpel an. Und das ist es auch. Aber es hilft, um eine Kommunikation in Gang zu bringen.
Es passierte jedoch etwas Interessantes: Während mein Freund den Ice-Braker abschoss, und ich im Hinterland auf der Tanzfläche tanzte, merkte ich, wie dieser Junge einen Blick auf mich warf, nicht auf meinen Freund. Und so kam es, dass plötzlich ich, und nicht mein Freund, mit dem ich dort war, ein Gespräch mit diesem merkwürdigen Spitzenjungen führte.
Ich war beeindruckt. Ich führte bei 120 Dezibel, wummernden Bässen, oberkörper-frei tanzenden Typen um mich herum, eine echte Unterhaltung. Das an sich wäre es schon Wert, einen ganzen Artikel hier zu schreiben. Denn das passiert in Berlin fast nie. Dieser Junge, der tatsächlich keine Spitzenunterwäsche trug, war intelligent, verantwortungsvoll, lustig und sehr charmant. Und entgegen all meiner selbst-auferlegten Regeln, gab ich ihm meine Telefonnummer und sagte recht salopp: „Melde dich doch mal.“ Dass wir uns bereits am darauf folgenden Tag in einem winzigen Cafe treffen würden, war mir damals nicht klar.
Einen Tag und einen fast ausgeschlafenen Kater später, trank ich mit diesem Spitzenjungen einen Kaffee. Das Gespräch verlief bis zu einem ganz bestimmten Punkt wirklich hervorragend. Wir schienen auf einer Wellenlänge zu reiten. Ein Thema ergab das nächste. Die Zeit verlief wie im Flug. Alles war irgendwie wirklich großartig, bis er mich fragte: „Du hast doch einen Freund, oder? Typen wie du sind nicht single, richtig?“.
Wow. Es war, als hätte jemand um 6 Uhr morgens in einer Diskothek unvermittelt das Flutlicht angemacht. Die Musik war aus, das Licht erloschen, der Zauber verflogen.
Und doch dachte ich: Fuck!
(Ja. Er hatte recht. Scheiß Menschenkenntnis.)
Menschen, wie diesen Spitzenjungen zu treffen ist unwahrscheinlich selten. Fast schon ein „Sechser im Lotto“, würde meine Mutter sagen. Und doch durfte das, was war, nicht sein. Ich war in einer Beziehung. Einer glücklichen.
Dennoch suchte ich, suchten wir, einen Weg aus dieser vermeintlichen Sackgasse hinaus. Er, der Spitzenjunge, definierte klare Regeln, die jeder Grenzkontrolle hätten standhalten können: „Wir treffen uns nur zum Essen.“ oder „Wir sehen uns nur für eine Stunde.“ waren Chat-Nachrichten, die wohl mehr für ihn, naja: für mich, gedacht waren, um uns, um ihn, um mich zu schützen.
Was darauf folgte war ein Frühling mit 2 Treffen. Beim ersten aßen wir Nudeln und kauften ein Bügeleisen. Beim zweiten liefen wir auf den Teufelsberg und umarmten uns zum Schluss wie zwei ehemalige Schüler nach einen Klassentreffen á la „20 Jahre Abi“. Platonisch. Nichtssagend. Auswechselbar.
Danach kam eine Funkstille, die wohl mehr von mir ausging, als von ihm. Ich war beruflich am anderen Ende der Erde, versuchte dort für ein paar Monate Fuß zu fassen und aus einem Leben zwischen Hotel und Büro etwas Lebenswertes zu machen. Wir wechselten ein paar Zeilen in Chat-Programmen auf meinem Handy. Doch was waren eher Nachrichten mit dem Charakter: „Lebst Du noch?“ oder „Lange nicht gesehen.“. Ich fühlte mich schuldig, eine Freundschaft zu diesem Spitzenjungen zu vernachlässigen.
Doch einen Frühling später, mitten im Sommer schrieb er mich an: „Wollen wir uns mal wieder sehen?“. Sofort und ohne zu zögern schrieb ich: „Na klar!“, und wir vereinbarten einen gemeinsamen Termin 2 Tage voraus. Wie zuvor, war er sehr strickt: „Kaffee. 1 Stunde. 13 Uhr.“ – beinahe schon genauso „steno“, wie ich es hier schreibe.
Und dann war dieser Tag plötzlich da. Ich schlug ein Restaurant vor. Doch die Reaktion, die ich bekam, war super verblüffend: „Sie haben sich in der Nummer geirrt.“
Hatte dieser Spitzenjunge plötzlich seine Handynummer gewechselt und mich aus seinem Instagram-Profil gelöscht? Innerhalb von 2 Tagen? Was war geschehen?
Ich versuchte, durchzudringen zu diesem Menschen, der so organisiert und strikt ist. Ich versuchte, einen Grund zu erkennen und fand doch keinen. Ich versuchte, ihn in eine „Hab-ich-doch-geahnt“-Schublade zu stecken. Doch es gelang mir nicht.
Von dem einen auf den anderen Moment fühlte ich mich hilflos. Ein bisschen wie ein Klempner vor einem Wasserrohrbruch ohne Zange. Ich wußte instinktiv, dass ich im Kopf des Spitzenjungen etwas angerichtet hatte, das in ihm ein Leck verursacht hatte. Alle Schotten dicht. Keine Chance auf ein Durchkommen.
Okay. Ich versuchte es mit Nachrichten, einem Anruf. Doch egal was ich versuchte, seine Regeln waren ungebrochen: Funkstille Seine Chinesische Mauer der Kommunikation war so standhaft, um Jahrtausende zu überdauern. Ich war auf der einen Seite, er war auf der anderen.
Sicher denkt ihr jetzt: „Gut, dass er „dicht gemacht“ hat. Er hat dir den Kopf verdreht, und Du ihm auch.“. Doch auf eine seltsame Weise habe ich das, was davor war, genossen. Es war wie der Blick in eine Welt, die ich nicht mehr wahrgenommen habe. Eine Art von Unterhaltung, die ich schon lange nicht mehr geführt habe. Es war wie ein toller Film im Kino – und jemandem, der plötzlich das Licht einschaltete.
Seitdem diese „Chinesische Mauer der Kommunikation“ passiert ist, überlege ich ununterbrochen, was aus all dem hätte werden können. Wie „gefährlich“ das alles für mich, für ihn, hätte werden können. Doch das interessante an dieser Geschichte ist: Ich werde es wohl niemals erfahren.
Auf der einen Seite hat sich der Spitzenjunge vor Erlebnissen bewahrt, die er vermeintlich nicht mehr unter Kontrolle hat. Es hat mich aber auch vor Erlebnissen bewahrt, die mich in eine unkomfortable Lage hätten bringen können. Doch die interessanteste Frage bleibt: Hat er diese Entscheidung für mich getroffen? Oder hat er diese Entscheidung einzig und allein für sich getroffen?
Ich glaube, ich wäre mit einer egoistischen Antwort vom Spitzenjungen zufriedener als ich es wäre, wenn er die Entscheidung auch für mich getroffen hätte.
Auf eine seltsame Art bleibt er dieser etwas mysteriöse, süß-lächelnde Typ, mit dem ich mich stundenlang hätte unterhalten können. Und von dem ich weiß, dass Unterhaltungen nie langweilig geworden wären.
Das war – und ist – selten.
In Berlin.