Heute habe ich jemand getroffen, den ich vorher nur aus dem Chat kannte. Wie es so oft ist, war der erste Eindruck im Chat sehr nett und lustig. Jeder versucht, sich im Chat so interessant aber unpersönlich wie möglich darzustellen. Jeder zeigt sich von seiner besten Seite. Das ist das ungeschriebene aber feste Gesetz im Worldwide Web.

Schon oft habe ich erlebt, dass diese Menschen im wahren Leben oft Probleme haben, von denen sie im Chat niemandem etwas erzählen würden. Probleme, die nicht in den Chat, aber zum wahren Leben gehören.

So ähnlich war mein Erlebnis heute auch mit Jens. Ich fand ihn nett und sympathisch. Also fragte ich Freunde, ob sie ihn kennen würden, diesen freundlich lächelnden Kerl aus dem Internet. Und wie der Zufall es will: Sie kannten ihn. Was sie mir über ihn erzählten lieβ mich jedoch vorsichtig werden. Denn das, was mir meine Freunde von ihm erzählten, passte so gar nicht in das Bild, das ich von ihm hatte.

Dennoch beschloβ ich, mir selbst ein Bild von ihm zu machen. Doch bevor ich die Chance dazu bekam, erzählte ich ihm, was mir meine Freunde sagten. Ich machte den Fehler, ihm dies auf dem unpersönlichsten aller Wege zu sagen: dem Internet.

Für ihn war diese Nachricht ein Schock. Wer hatte da über ihn geredet? Wer verbreitete Gerüchte über ihn, die gar nicht stimmten? Ich merkte, dass ich ihn mit dieser Nachricht sehr getroffen hatte. Dennoch konnte ich das gesagte nicht zurücknehmen. Es war gesagt. Es gab kein Zurück mehr.

Treffen wollte ich ihn trotzdem. Nur zu oft habe ich in der Vergangenheit gemerkt, dass an vielen Gerüchten nicht viel dran ist. Jeder zerreisst sich das Maul über jemanden, den er nicht wirklich kennt. Die Welt ist klein, auch im Chat. Das weiß man.

Von dem Vorschlag eines Treffens war Jens nicht wirklich begeistert. Ich pochte jedoch stark darauf, und er willigte schliesslich ein. Warum genau, weiβ ich auch nicht. Als ich ihn dann traf, merkte ich, dass jemand vergeblich um einen Ruf kämpfte, den er schon davonschwimmen sah. Er wollte seinen Ruf retten, der nach wie vor ein guter war. Jedoch war er nun angekratzt und verunsichert von meinen Gerüchten.

Je mehr er mir von sich erzählte (und das war nicht sehr viel), desto stärker stellte ich mir die Frage, wie viel jemandem sein Ruf wert sein sollte? Sollte man sich selbst für das verbiegen, was man ist? Sollte man es immer jedem recht machen wollen?

Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr merkte ich, dass praktisch jeder Mensch versucht, möglichst ohne irgendwo anzuecken, durchs Leben zu gehen. Leute, die nicht in das makellose Bild passen, das die anderen von einem haben, werden oft als „ausgeflippt“, „schrill“, „seltsam“ oder einfach „anders“ bezeichnet. Niemand möchte gern einen solchen Ruf haben. Im Privaten vielleicht, aber im wirklichen „offiziellen“ Leben bestimmt nicht.

Ganz anders ist es im Internet: Desto schräger, desto besser und interessanter ist man. Im wirklichen Leben ist es jedoch genau andersherum.

Somit stellte ich mir die Frage, wie sehr Internet „Realität“ ist. Macht im Internet nicht jeder dem anderen etwas vor? Sind nicht die „Normalos“ die Langweiler schlechthin? Oder kann „normal“ auch interessant sein?

Ich hoffe sehr, dass sich die Menschen im Internet nicht von der Fassade, die manche aufbauen, blenden lassen, sondern auch hinter diese schauen. Denn gerade heute hat sich wieder einmal das bestätigt, was ich schon lange weiss: Schenke Gerüchten nicht allzu viel Beachtung und schau auch hinter die Fassade. Doch vor allem: Mach Dir ein eigenes Bild von den Menschen hinter Nicknames und bunt blinkenden Profilen. „der Schein trügt“, sagt man. Das gilt ganz besonders auch im Internet aber auch im wahren Leben. Und man sollte Gerüchten nicht allzu viel Beachtungen schenken und sich immer selbst ein Bild machen.