Sue lernte ich kennen, als ich vor 4 Jahren bei meinem jetzigen Arbeitgeber anfing zu arbeiten. Sie saß am Tisch neben mir. Sie war klein, vielleicht etwas pummelig, hatte dünne blonde und recht lange Haare. Immer hatte sie ein Lächeln im Gesicht und eine lustige Geschichte parat. Seit 22 Jahren arbeitete sie schon für diesen Arbeitgeber. Ein Urgestein. Jemand, den man alles fragen konnte, und die immer ein offenes Ohr hatte.
Vor zwei Jahren dann kam der Schock: Sie merkte, dass man sie loswerden wollte. Warum genau hat niemand verstanden. Die Meldung, besser gesagt: die Gerüchte, kamen über Nacht, vollkommen unerwartet. Sue war geschockt. „Wie können sie das nur machen?“, fragte sie mich, den Neuling, der die Firmenpolitik nun wirklich nicht überschaute und ein sehr begrenztes Netzwerk hatte. Sue, die Netzwerkerin, die, die die Fäden im Hinterland in den Händen hielt, sollte entlassen werden.
Und so half ich Sue, über einen befreundeten Anwalt den besten Deal für einen Weggang zu bekommen. Und ein paar Monate später, saß sie zuhause in ihrer Wohnung im Prenzlauer Berg. Eine Wohnung, die schon immer etwas zu groß und zu teuer für sie gewesen war.
Ihr gesamter Freundeskreis hing mit der Firma zusammen. Nicht nur ihr berufliches Netzwerk brach zusammen, auch ihr Freundeskreis wurde immer kleiner. Doch Sue, die Netzwerkerin, organisierte Weinverkostungen, Partynächte, Motto-Veranstaltungen und gemeinsames Public Viewing von ihrem Lieblings-Fußballclub, dem FC Liverpool.
In großen Abständen trafen wir uns. Große Abstände, da ich selbst beruflich stark eingespannt war und mein eigenes soziales Leben hatte, das deutlich anders war als das einer Singlefrau aus Großbritannien in Berlin. Sie machte die Nacht zum Tag. Ich war froh, nachts schlafen zu können. Ja, man kann sagen, dass sich unsere Wege zwar einmal gekreuzt hatten, sich jedoch immer weiter voneinander entfernten. Ihr Leben bestand aus Partynächten in Berlin, meines aus einem alltäglichen Leben.
Und dann entdeckte ich, als ich sie einmal besuchte, ein weißes Pulver auf ihrem Glastisch. Ich fragte, was das sei. Meine Vermutung war richtig. Sue nahm Drogen. Sie stürzte ab. Zwar versuchte ich der aufgedrehten Sue ins Gewissen zu reden, doch das ist recht aussichtslos, merkte ich, als ich in ihre Augen schaute. Sie hatte nicht nur ihren Job verloren, sondern auch ihren Halt.
Die Frau, zu der ich einst bewundernd aufgeschaut habe, weil sie so viel Wissen in meiner Branche hatte, und ein so tolles berufliches Netzwerk: ein Wrack. Wenn sie sich längere Zeit mal nicht meldete, dann versuchte ich über Kollegen herauszufinden, wie es ihr geht. Immer weniger konnten mir meine Kollegen von ihr erzählen, da auch sie, langsam aber sicher, den Kontakt zu ihr abbrachen.
Vor einer Woche nun bekam ich eine Abschieds-E-Mail von ihr: Sie geht zurück nachhause. Nach England. Zurück zu ihrer Familie. Trotzig und enttäuscht war diese E-Mail. Doch ich dachte: „Vielleicht ist dies ein guter Neuanfang.“. Ganz sicher bin ich mir damit jedoch nicht, da ihr Leben, als Mitte-50igerin ohne Kinder, ohne Mann und Freunde, nicht das Leben ist, das sich ihre Eltern für sie wünschten.
Ich weiß nicht, was mit ihr nun passiert. Wird sie wieder Halt finden? Einen neuen Job und ein neues Leben beginnen? Und ich frage mich, warum ein so ehemals erfolgreicher Mensch so tief abstürzen konnte. Ich frage mich. Antworten darauf habe ich keine.