Freitagabend. Eine stressige Woche geht zu Ende. Der erste Wein ist drin, und ich suche auf Youtube: „Zufluchtsort“.

Einfach nur weg will ich gerade. Weg vom Stress. Weg vom Alltag. Weg von den alltäglichen, vernünftigen Dingen, die von mir erwartet werden. Und dann bietet mir Youtube dutzende christliche Videos an. Das Wort: „Zufluchtsort“, scheint ein sehr religiöses Wort zu sein, ohne dass ich mir dessen bewusst gewesen wäre.

Die Idee, einfach mal auszubrechen, ist nicht neu und existiert sicherlich nicht nur in meinem Kopf allein. Schon vor vielen Monaten schaute ich mir Youtube-Videos an, wie Menschen sich einfach ins Auto setzen und losfahren, um die Welt zu entdecken. Zugegebenermaßen ist das aktuell (in „Zeiten von Corona“, ich rolle die Augen, während ich das schreibe) ein schwer vorstellbarer Weg, die Welt zu entdecken. Na, wie auch immer, jedenfalls befasste ich mich mit dem Thema und war wirklich platt, als mir die Freundin von guten Freunden von ihrem VW T5 Bulli erzählte:

Nadine arbeitete für die bekannte Klimakonferenz in Davos (Schweiz). Diese wurde in diesem Jahr nun Corona-bedingt abgesagt, was bei ihr Arbeitslosigkeit bedeutete. Auf einem Berliner Balkon stehend, und in die Nacht hineinblickend, fragte ich mich ganz im Stillen, ob das für sie wohl ein Problem sein würde. Arbeitslos – von jetzt auf gleich.

Doch sie sagte mir, dass sie sich aktuell so frei wie nie zuvor fühlen würde. Vor einigen Jahren schon hatte sie sich den beschriebenen VW T5 Bus besorgt, in den sie sich regelmäßig setzte, um dem Alltag für ein paar Tage zu entfliehen. Das kam mir sehr romantisch vor, aber irgendwie auch recht „Einsiedlerisch“. Um das zu verstehen, muss man wissen, dass Nadine in Genf arbeitete, in Berlin wohnte, und ihre kleinen Auszeiten gern an der Küste erlebte. Was für ein verrückter Lebenswandel, oder? Arbeiten in den Bergen, Wohnen im flachen Land, Entspannung am Meer.

Zurück zu mir. So romantisch ich mir diese Flucht aus dem Alltag auch vorstelle, dieses: „Schlüssel umdrehen, losfahren, für sich sein“, so sehr frage ich mich aber auch: „Ist es wirklich so romantisch?“, oder fängt man an, dieses Leben, diese Auszeit, zu verfluchen, sobald einem die Tautropfen, die einen aus dem Schlafen holen, auf die Stirn tropfen und man stinkt wie ein Iltis? Zu viele Fragen für einen Absatz? Sicherlich. Die Fragen stelle ich mir trotzdem.

Eine andere Frage, die ich mir stelle ist: Warum versuche ich eigentlich, dem Alltag zu entfliehen? Ist es der Stress auf der Arbeit? Die Monotonie des Homeoffice? Die kürzer werdenden Tage im Herbst? Die Kälte? Die Dunkelheit? Die Frage: Bleibt das jetzt so? Ich denke, es ist ein Mix aus allem. Doch es bleibt: eine Flucht. Und ich bin wirklich nicht der Typ, der flüchtet.

Also habe ich heute Yoga gemacht, in dem ich einer bekannten YouTuberin gefolgt und ihre Übungen im Arbeitszimmer nachgemacht habe. Neue Reize – für 20 Minuten. Zu meinem Freund sagte ich: „Ich mache dann mal Yoga. Bitte nicht zuschauen! Ich sehe sicherlich albern aus.“, und ich bin mir sicher, dass ich das auch tat. Denn während Maddie, die Yoga-Lehrerin auf YouTube, ganz grazil ihre Arme und Beine in vollständiger Synchronität vom Körper streckte und lässig nebenher mit Anweisungen zur Atmung routinierte Gelassenheit ausstrahlte, kämpfte ich unter Anstrengung aller Muskeln um das Finden von Balance bei aufkommender Kurzatmigkeit. Gut, dass die Tür geschlossen war.

Doch ich frage mich noch immer: Kann man den Wunsch nach Flucht aus dem Alltag mit digitalen Fitness-Reizen übertönen? Was fehlt eigentlich? Geht es nur mir so? Ist eine Flucht, nicht auch immer eine Flucht auf Zeit? Wovor eigentlich? Und wenn diese Flucht auf Zeit funktioniert, was ist, wenn diese Zeit dann vorbei ist, und ich unweigerlich zurück in den Alltag muss?

Kann man den Alltag bewältigen, oder möchte man gleich wieder flüchten? Ist eine „Flucht vor dem Alltag“ nicht eine Sucht, von der man abhängig wird? Wie findet man eine Balance, ohne von einem Extrem in das Nächste zu rennen?

Oh je. Ich stelle Fragen, mit denen ich versuche, meine Geschichte zu erzählen. Doch auf der Suche nach Antworten zu all diesen Fragen, stolpere ich auch über Instagram-Profile, in denen Fremde (Ja, ich folge ihnen, aber es sind Fremde!), trotz Corona, Urlaub in solch entlegenen Orten wie den Azoren machen. Tolle Bilder erreichen mich da. Und, da bin ich ehrlich, sie machen mich neidisch. Doch ich sehe auch, gut versteckt, zwischen den Zeilen, wie diese aufwendig und gut geplanten Reisen, Flüchte sind. Flüchte vor dem Job in Großraumbüros, vor endlosen Zahlenkolonnen, die vielleicht nicht den blumigen Firmengewinn versprechen, aber Gewinneinbußen wegen Corona. Ich sehe, wie diese Personen, die heute noch auf den Azoren sind, nächste Woche schon wieder am Wochenende die Tage woanders in Deutschland, aber nicht Berlin, verbringen. Flucht. Betäubung. Ablenkung. Alltag. Flucht. Es wiederholt sich. Immer und immer wieder. Und ich klicke immer wieder auf „Like.“.