Scharf, und doch milde, schaut er mich aus seinen blauen Augen an. Lichter werden die Haare auf seinem Kopf, faltiger sein Lachen um die Augen herum. Er ist kleiner als ich. Unscheinbar irgendwie. Aber er hat ein auffälliges Lachen, wenn er denn lacht. Vor mir sitzt Rainer in seinem dunkelgrauen Sweatshirt und seiner schwarzen Hose. Schwarz ist seine Lieblingsfarbe. Nicht ungewöhnlich für einen Fotografen, der seit vielen Jahren in Berlin lebt, liebt und irgendwie zurechtkommt.
Jeder seiner Sätze möchte mir eine Frage stellen, die dennoch unausgesprochen bleibt: “Was fange ich mit meinem Leben an?”. Ohne das er es sagt, wartet er auf eine Antwort, die er schon seit Jahren sucht. Und so erzählt er mir von seinem sehr ungewöhnlichen Leben, das er mag. Ob er es liebt, lässt er offen.
Vor 3 Jahren reiste er allein nach Moskau, um, wie so viele Berliner, etwas Abstand von der großen Stadt Berlin zu finden, um eben diesen Abstand in einer anderen Stadt nicht zu haben. Es ist beinahe so, als ob diejenigen, die in einer Stadt wie Berlin doch nicht das finden, was sie suchen, und deshalb in andere große Städte reisen. Er fand sich allein tanzend in einem Club wider. Während die harten Beats um seinen Kopf schwirrten, stand plötzlich jemand vor ihm, der sein Leben für immer verändern sollte: Dennis.
Dennis, viel jünger, viel größer als er, strahlte ihn an. Blaue Augen, blonde Haare. Schlank. Schlaksig. Etwas Unschuldiges hatte er an diesem so garnicht unschuldigen Ort. Eine bewegte Vergangenheit im Sibirien der heutigen Zeit trieb Dennis in die große Stadt. Ebenso eine Flucht auf der Suche nach sich selbst. Sie tanzten, hatten Sex. Eine tolle Zeit. Alles drehte sich um die beiden. Schließlich fanden sie zueinander, und mit einer Heirat besiegelte Rainer sein Leben für die nächsten Jahre und brachte Dennis nach Berlin.
Alles fremd. Alles neu. Alles spannend. Sehr schnell wurde klar, dass ein ruhiges Leben in den eigenen vier Wänden nur kurze Zeit zum Glücklichsein währte. Und so zog es Dennis hinaus in die Partynacht von Berlin. Wieder wummerten die Beats um seinen Kopf. Diesmal im Berghain. Noch dunkler, noch intensiver. Drogen halfen dabei, verstärkten die Gefühle des Augenblicks, schärften den Blick für die Blicke der anderen. Drogen halfen, um mitzuhalten mit dem Beat Berlins. Höher, schneller, bunter.
“Er holt etwas nach. Etwas, das er zuvor nie hatte.”, meint Rainer zu mir, als ich nach dem Warum frage. Dennis, Sohn eine russischen Forschers in den Sechzigern und einer Mutter in den Vierzigern hatte nicht viel von einem Vater. Dieser wurde, so sagt er, vom Staat ermordet als er ein Jahr alt war. Mit seiner Mutter, die ihn nie wirklich liebte, zogen sie auf’s Sibirische Land. “Sie wuchsen dort ohne fließendes Wasser auf. Er musste zwei Stunden lang durch den Wald von der Schule zu Fuß nachhause laufen.”, schildert mir Rainer die Lebensgeschichte von Dennis. Und der, der mitten im Wald aufwuchs, merkte irgendwann, dass er schwul war, nie gemocht wurde, noch nicht einmal von seiner Mutter, und dass er aus der drückenden Enge seines sibirischen Dorfes ausbrechen musste.
“Mit nichts in den Händen ist er von zuhause ausgezogen und sich seither immer alles selbst erarbeitet. Darauf ist er stolz. Oft wirkt er kühl, überheblich und abweisend. Aber ich weiß, dass er genau das Gegenteil ist, jedoch gelernt hat, seine Zerbrechlichkeit keinem Menschen zu zeigen, weil es kein Vorteil ist, zerbrechlich zu sein.”
Beide, Rainer und Dennis, lieben die Freiheit obwohl sie verheiratet sind. Im Geiste vereint, geht jeder von ihnen im alltäglichen Leben eigene Wege. Eine geschlossene Beziehung hatten sie nie. Jeder hatte das Privileg, sich auszutoben, Erfahrungen zu sammeln. Zu Beginn war dies ein Privileg, das nur Dennis, neu in der großen Stadt Berlin, zu nutzen wusste. Dates über Dates. Gehen. Kommen. Nicht darüber sprechen. Nächstes Date planen. Alltag.
Mittlerweile hat auch Rainer die Möglichkeit einer offenen Beziehung zu nutzen gelernt und lädt 19-Jährige zu sich nachhause ein. Im Ehebett der beiden vergnügt sich nun Rainer in Bondage-Sessions mit Jünglingen, während sein Ehemann Dennis mit einem neuen Liebhaber mal in Berlin, mal in London oder Barcelona “zugange ist”.
„Ist das denn eine Ehe, so wie Du sie dir vorgestellt hast?“, frage ich Rainer, als er mir von all diesen Erlebnissen und Lebenseinstellungen erzählt, die so weit weg von meinem Leben sind.
“Ich war nie jemand, der für das Gewöhnliche zu haben war. Als wir uns in Russland in dem Club trafen, hat es für uns beide ‘Klick.’ gemacht. Und das gilt nach wie vor. So unterschiedlich wir auch sind, so gut passen wir zusammen. Wo auch immer der andere ist, wir passen aufeinander auf.”, antwortet er mir auf diese Frage.
“Vielleicht hätte ich doch Psychologie studieren sollen.”, meint Rainer, als wir uns verabschieden.